Gefühle sind ein zentraler Bestandteil unseres menschlichen Daseins, und dennoch neigen viele von uns dazu, sie zu verdrängen oder mit Ablenkung und Betäubung zu reagieren. In diesem Artikel werden wir uns genauer anschauen, warum wir unsere Gefühle häufig nicht zulassen und stattdessen zu diesen bewährten, aber nicht immer hilfreichen Bewältigungsmechanismen greifen. Außerdem werden wir ergründen, warum es so wichtig ist, wieder zu lernen, Gefühle bewusst zu fühlen, und wie genau wir diesen Prozess angehen können.
1. Warum wir unsere Gefühle oft verdrängen oder betäuben
Es gibt zahlreiche Gründe, warum Menschen dazu neigen, ihre Gefühle zu verdrängen oder durch Ablenkung und Betäubung zu „bewältigen“. Hier sind einige häufige Faktoren:
- Gesellschaftlicher Druck: In vielen Gesellschaften wird das Zeigen von Gefühlen oft als Schwäche angesehen. Menschen fühlen sich gezwungen, ihre Emotionen zu verbergen, um gesellschaftliche Normen zu erfüllen. Als Kind hört man eher ein „Komm, beruhig dich wieder, alles ist gut“, statt ein „Genau, jetzt wein dich gerne so richtig aus, oder lass deine Wut so richtig zu“.
- Angst vor Vulnerabilität: Sich seinen Gefühlen hinzugeben erfordert ein gewisses Maß an Verletzlichkeit. Die Angst davor, verletzlich zu sein und verletzt zu werden, kann dazu führen, dass wir Emotionen unterdrücken.
- Angst vor Verstärkung: Häufig beobachte ich bei meinen Kunden die Angst/ den Widerstand, durch das Zulassen und das bewusste Fühlen der Gefühle, diese zu verstärken und nicht mehr loszuwerden. Dass das Zulassen der Gefühle genau das Gegenteil bewirkt, nämlich das Loslassen der Emotionen, widerspricht der menschlichen Logik.
- Übermäßiger Optimismus/ Think positive: Häufig wird das Konzept des positiven Denkens missverstanden und geglaubt, dass es bedeutet, alle negativen Gedanken oder Emotionen zu verdrängen. Tatsächlich sollte positives Denken darauf abzielen, eine optimistischere Perspektive zu entwickeln, ohne die Realität zu leugnen.
- Traumatische Erfahrungen: Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, neigen dazu, ihre Gefühle zu verdrängen, um sich vor erneutem Schmerz zu schützen.
- Schnelle Lösungen: Ablenkung und Betäubung bieten oft schnelle Erleichterung von unangenehmen Emotionen. Dies kann zur Gewohnheit werden.
2. Warum es so wichtig ist, wieder zu lernen, Gefühle bewusst zu fühlen
Das Verdrängen oder Betäuben von Gefühlen mag kurzfristig Erleichterung bieten, aber es hat langfristige negative Auswirkungen auf unser Wohlbefinden:
- Gesundheitliche Folgen: Die Unterdrückung von Gefühlen kann zu Stress, Angstzuständen, Depressionen und körperlichen Gesundheitsproblemen führen.
- Beziehungsschäden: Das Verbergen von Emotionen kann Beziehungen belasten, da Kommunikation und Empathie leiden. Es kann außerdem Beziehungen verhindern.
- Selbstwahrnehmung: Wir verlieren den Kontakt zu uns selbst, wenn wir unsere Gefühle ignorieren. Selbstverständnis und persönliches Wachstum werden erschwert.
- Verpasste Chancen: Gefühle sind unsere innere Führung. Wenn wir sie unterdrücken, verpassen wir wichtige Hinweise auf Veränderungen in unserem Leben.
- Dysfunktionale Bewältigungsstrategien: Um uns vor den als Bedrohung abgespeicherten Gefühlen zu schützen, überlegt sich unser System Schutzmechanismen, die häufig ihre Schattenseiten mit sich bringen. Beispielsweise übermäßige Anpassung, Feiern/ Alkohol, Shopping, People Pleasing, Perfektionismus sind häufige Strategien in diesem Zusammenhang.
- Verpassen der vollständigen Erfahrung: Das Leben besteht aus einem kunterbunten Strauß an Erfahrungen und damit verbundenen Emotionen. Um das Leben wirklich mit all seinen Höhen und Tiefen erleben zu können, gehören intensive Gefühle dazu. Sie machen das Leben lebenswert.
- Verhindern von positiven Gefühlen: Wir können uns nicht entscheiden, nur manche von uns angenehm empfundene Gefühle der Gefühlspalette zu fühlen. Wir können uns nur entscheiden, uns von Gefühlen abzutrennen, oder nicht. Das heißt, sobald wir uns vor „negativen“ Gefühlen schützen, können wir auch die „positiven“ Gefühle nicht mehr oder nur in abgeschwächter Form spüren.
3. Wie können wir wieder lernen, Gefühle zuzulassen?
Die Wiederentdeckung unserer Gefühle erfordert Zeit und Übung. Hier sind einige Schritte, die uns dabei helfen können:
- Selbstreflexion: Nimm dir Zeit, um über deine Gefühle nachzudenken. Versuche herauszufinden, warum du sie verdrängst. Welche Ängste und Überzeugungen stehen dahinter?
- Achtsamkeit praktizieren: Achtsamkeitsübungen helfen dabei, im gegenwärtigen Moment zu sein und Emotionen ohne Urteil wahrzunehmen. Meditation und Atemübungen sind hilfreiche Werkzeuge.
- Alle Gefühle würdigen: Es gibt keine positiven und negativen Gefühle. Diese Bewertung passiert ausschließlich durch deinen Verstand. Deshalb ist es hilfreich, alle Gefühle zu würdigen und anzunehmen, ohne sie zu bewerten. Jedes Gefühl hat einen sehr guten Grund, gerade da zu sein.
- Coaching/ Therapie: Ein Therapeut oder Coach kann dir dabei helfen, tiefer in deine Emotionen einzutauchen und Strategien zur Bewältigung zu entwickeln.
- Unterstützung suchen: Teile deine Erfahrungen und Gefühle mit Freunden oder in deiner Familie. Das Teilen kann entlastend sein und dich und andere ermutigen, Gefühle zuzulassen.
- Neue Erfahrungen machen: Indem du es in deinen Alltag integrierst, in ständigem Kontakt mit deinen Gefühlen zu sein und sie zuzulassen, wirst du und dein Nervensystem neue Erfahrungen abspeichern: Ich kann meine Gefühle fühlen. Es sind nur Gefühle, sie sind keine echte Gefahr. Ich kann es aushalten und überleben, sie zu fühlen und danach geht es mir sogar besser.
Fazit
Die Wiederentdeckung und Akzeptanz unserer Gefühle ist ein wichtiger Schritt zu einem erfüllten Leben und starken Beziehungen. Es erfordert Mut, sich den eigenen Emotionen zu stellen, aber der Gewinn an Selbstverständnis, Gesundheit und Lebensqualität ist es wert. Die Erfahrung zu machen, dass du es aushältst, deine Gefühle zu fühlen und deshalb nicht mehr vor deinen eigenen Gefühlen weglaufen und dich nicht mehr von der Angst vor deinen Gefühlen „erpressen“ lassen musst, bedeutet Freiheit.