Viele von uns kennen das Gefühl, ständig für andere da sein zu müssen – sei es für Partner, Freunde, Familienmitglieder oder Kollegen. Wir kümmern uns, helfen, springen ein, übernehmen Verantwortung. Auf den ersten Blick wirkt das wie ein Zeichen von Mitgefühl und Stärke. Manchmal verbirgt sich hinter diesem Verhalten aber eine tiefere Dynamik – die der Co-Abhängigkeit?
Brauchen statt Lieben: Eine subtile Verwechslung
In co-abhängigen Beziehungen wird oft etwas verwechselt, das auf den ersten Blick ähnlich erscheint, sich aber grundlegend unterscheidet: jemanden zu brauchen versus jemanden zu lieben.
Brauchen basiert auf Mangel. Es ist die Hoffnung, dass der andere etwas in uns heilt, uns rettet oder unsere innere Leere füllt. Liebe hingegen kommt aus der Fülle. Sie ist freiwillig, frei von Kontrolle und erwartet keine Rettung. In einer gesunden Beziehung tragen beide zur Verbindung bei – ohne sich selbst dabei zu verlieren.
Co-Abhängigkeit: Wenn Verantwortung zur Ersatzidentität wird
Co-Abhängigkeit entsteht oft dort, wo Verantwortung zur Ersatzidentität wird. Das eigene Selbstwertgefühl ist gekoppelt an die Rolle des „Retters“, der „Verlässlichen“, des „Immer-für-andere-da-Seienden“. Das bedeutet: Wenn ich mich um dich kümmere, fühle ich mich wertvoll. Wenn du mich brauchst, fühle ich mich geliebt.
Doch das hat einen Preis: die Vernachlässigung der eigenen Bedürfnisse. In solchen Konstellationen wird Verantwortung nicht freiwillig, sondern zwanghaft übernommen – nicht aus Liebe, sondern aus Angst vor Ablehnung oder Bedeutungsverlust.
Woher kommt diese Dynamik?
Die Ursachen von Co-Abhängigkeit liegen häufig in der Kindheit:
- Parentifizierung: Kinder, die früh Verantwortung für das emotionale Gleichgewicht ihrer Eltern übernehmen mussten, lernen, dass ihr Wert vom „Funktionieren“ für andere abhängt.
- Unsichere Bindungserfahrungen: Wenn Zuwendung nur dann kam, wenn man „brav“, „hilfreich“ oder „nützlich“ war, wird Liebe später oft mit Leistung verwechselt.
- Emotionale Vernachlässigung: Wer nicht gelernt hat, sich selbst als wichtig zu empfinden, sucht den Sinn im Dasein für andere.
Diese Prägungen wirken im Erwachsenenalter oft unbewusst weiter – in Freundschaften, Partnerschaften, am Arbeitsplatz.
Die entscheidende Frage: Für wen übernehme ich Verantwortung?
Es lohnt sich, ehrlich hinzusehen:
- Übernehme ich Verantwortung, weil ich wirklich helfen will – oder weil ich gebraucht werden will?
- Sorge ich für andere, um mich verbunden zu fühlen – oder um mich selbst nicht fühlen zu müssen?
- Kenne ich meine Grenzen – oder verschwimmen sie regelmäßig?
Wer diese Fragen beginnt zu stellen, hat bereits einen wichtigen Schritt getan: raus aus der Automatismus-Schleife, rein in die Selbstverantwortung.
Was hilft?
- Selbstbeobachtung & Ehrlichkeit
Fang an, deine Motive zu hinterfragen. Nicht mit Schuld oder Scham, sondern mit Neugier: Was treibt mich wirklich an? - Eigene Bedürfnisse kennenlernen
Viele Co-Abhängige haben verlernt, ihre eigenen Bedürfnisse wahrzunehmen. Journaling, Coaching/ Therapie oder Gespräche mit vertrauensvollen Menschen können helfen, wieder Zugang zu sich selbst zu finden. - Grenzen setzen lernen
Ein „Nein“ zu anderen ist oft ein „Ja“ zu dir selbst. Gesunde Beziehungen halten Grenzen aus – toxische tun das nicht. - Professionelle Begleitung
Besonders tief verankerte Muster brauchen Zeit und professionelle Unterstützung. Coaches/ Therapeuten können helfen, dein Beziehungsmuster zu erkennen und Schritt für Schritt gemeinsam mit dir zu verändern. - Loslassen üben
Verantwortung abzugeben bedeutet nicht, lieblos zu sein. Es bedeutet, anderen ihre Eigenverantwortung zurückzugeben – und dir selbst deine.
Fazit
Verantwortung ist ein wertvolles Gut – aber sie sollte freiwillig und bewusst übernommen werden, nicht aus Angst oder innerem Zwang. Wer lernt, sich selbst liebevoll im Blick zu behalten, schafft die Basis für echte, nährende Beziehungen. Nicht aus Mangel, sondern aus Verbindung. Nicht, weil man gebraucht wird – sondern weil man liebt.